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Nachgefragt: Wie geht Baunormen-Machen, Herr Brunner?

Herr Brunner, wer kann eigentlich an der Normengestaltung teilnehmen?

Jeder! Jeder kann sich an der Gestaltung von Normen beteiligen. Normen sollen und werden von denjenigen entwickelt, die sie später anwenden. Die meisten Menschen meinen, DIN wäre eine Behörde oder sonstige staatliche Institution. Tatsächlich ist DIN ein privater Verein, der Normungsarbeit organisiert und darauf achtet, dass die Regeln für das Erstellen von Normen, die DIN 820, eingehalten werden. Ja, auch das Normen ist genormt. An den Inhalten von Normen arbeiten bei DIN ca. 36.000 Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Forschung, Öffentlicher Hand und Zivilgesellschaft, z. B. Verbraucherschutz- und Umweltverbände. DIN selbst hat 550 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Expertinnen und Experten sind in Arbeitsausschüssen organisiert, in denen sie die Norm-Entwürfe erarbeiten, bzw. sich in die Erarbeitung europäischer EN-Normen bzw. internationaler ISO-Normen einbringen. Jeder Arbeitsausschuss wird von einem DIN-Mitarbeitenden betreut.
An der Normung kann man sich auf drei Wegen beteiligen: 1. einen Antrag auf Erstellung und Änderung einer Norm stellen, 2. in einem Arbeitsausschuss mit am Norm-Entwurf arbeiten und 3. den Norm-Entwurf des Arbeitsausschusses kommentieren.

Wie funktioniert das ganz konkret?

Einen Antrag auf die Erstellung oder Änderung einer Norm kann man über die DIN-Webseite stellen (Normungsantrag: www.din.de/de/mitwirken/normungsantrag). Dort müssen verschiedene Fragen beantwortet werden, u. a.: Warum wird die Norm gebraucht, wer wird die Norm anwenden, was ist das öffentliche Interesse und wer soll bei der Entwicklung einbezogen werden? Ob ein Normungsantrag angenommen wird, hängt vor allem davon ab, ob es eine breite Zustimmung der betroffenen Kreise gibt. Wer direkt in einem Arbeitsausschuss mitarbeiten möchte, kann sich formlos bewerben. Norm-Entwürfe – nationale, europäische oder auch internationale – werden zunächst einmal veröffentlicht und können von jedermann kommentiert werden, bzw. es kann gegen sie eingesprochen werden (www.din.de/de/mitwirken/entwuerfe). Damit man keine Einspruchsfrist verpasst, lässt man sich am besten über den Normungsmonitor www.dinmedia.de/de/regelwerke/normungs-monitor zum aktuellen Stand von Normungsprojekten informieren. Jede rechtzeitig eingegangene Stellungnahme muss im zuständigen Arbeitsausschuss beraten werden. Alle Einsprecher werden zur Beratung eingeladen, damit sie ihre Kommentare gegenüber dem Arbeitsausschuss vertreten können.

Und wie setzt sich ein Normenausschuss zusammen?

Bei DIN gibt es 69 Normenausschüsse mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten, von Akustik über Dienstleistungen bis hin zu Luft- und Raumfahrt. Große Normenausschüsse sind wiederum in Fachbereiche unterteilt. So hat beispielsweise der größte Normenausschuss von DIN, der Normenausschuss Bauwesen, 22 Fachbereiche mit ca. 400 nationalen Arbeitsausschüssen und Arbeitskreisen, in denen die inhaltliche Normungsarbeit stattfindet. Diese Arbeitsgremien haben im Normalfall bis zu 21 Mitglieder. Die Gremien entscheiden selbst, welche Expertinnen und Experten zur Mitarbeit ins Gremium aufgenommen werden. Die Aufgabe von DIN ist, darauf zu achten, dass die Regeln für die Besetzung eingehalten werden. So hat der Arbeitsauschuss bei der Auswahl seiner Gremienmitglieder insbesondere zu berücksichtigen, dass die benötigte Expertise und die verschiedenen Perspektiven im Ausschuss vertreten sind.
Es gibt Themen mit einem sehr breiten Spektrum an Stakeholdern, andere sind sehr speziell. Geht es darum, dass der Stecker in die Dose passt, sind es vor allem die Hersteller von Steckern und Dosen, die sich auf Maße und Toleranzen einigen müssen. Bei komplexeren Themen wie Sicherheit, Umweltschutz oder Nutzerkomfort, müssen die Gremien breiter aufgestellt sein. Hier wäre beispielsweise auch der Input von Öffentlicher Hand, Wissenschaft und von Verbraucher- und Umweltverbänden gefragt.

Wie erfahre ich denn davon, dass Fachpersonen für einen Normenausschuss gesucht werden?

Das Finden von Expertinnen und Experten für die Gremienarbeit funktioniert ähnlich wie die Suche nach neuen Mitarbeitenden. Aufrufe zur Mitarbeit werden auf den Internetseiten der jeweiligen Normenausschüsse veröffentlicht. Eine zentrale „Stellenbörse“ gibt es bei DIN nicht – vielleicht noch nicht. Am schnellsten kann man sich einen Überblick über das aktuelle „Stellenangebot“ verschaffen, indem man im Internet nach „DIN Aufruf zur Mitarbeit“ sucht. Bei Interesse zur Mitarbeit in einem bestimmten Gremium kann man sich auch initiativ an den zuständigen Gremienbetreuer bei DIN wenden. Den richtigen Ansprechpartner findet man am schnellsten, indem man über die Suchfunktion auf der DIN-Internetseite nach der Norm sucht, an der man mitarbeiten möchte.

Wie lange dauert es dann, bis eine neue Norm erarbeitet ist?

Das ist ganz unterschiedlich. Mehrere Faktoren spielen hier eine Rolle. So kommt es darauf an, wie umfangreich die Norm ist, oder ob es sich um die Überarbeitung einer bestehenden Norm oder eine neue Norm handelt. Der wesentlichste Zeitfaktor ist aber, wie lange das Gremium dafür benötigt, zu einer gemeinsamen Auffassung zu gelangen: einen Konsens zu finden. Das kann unter Umständen Jahre dauern. Aber gerade der Konsens ist es, was für eine breite Akzeptanz einer Norm sorgt. Die Prozesse bei DIN sind so angelegt, dass eine Norm in 18 Monaten erarbeitet werden kann, von der Erarbeitung des Norm-Entwurfs, der öffentlichen Einspruchsphase und Einarbeitung von Kommentaren bis zur Veröffentlichung der Norm. Es gibt auch Themen, zu denen kein Konsens möglich ist. Diese wären dann nicht normungsfähig.

„Es geht darum, unterschiedliche Perspektiven zum Konsens zu führen.“

Markus Brunner

Wer bestimmt, wann eine Norm fertig ist? Und wer prüft sie?

Bevor eine Norm veröffentlicht wird, wird der Norm-Entwurf zur öffentlichen Kommentierung veröffentlicht. Den Zeitpunkt beschließt der Arbeitsausschuss, wenn die Norm aus seiner Sicht inhaltlich fertig ist. Die Fachöffentlichkeit bzw. jeder, der sich für die Norm interessiert, hat nun zwei Monate Zeit, den Norm-Entwurf zu kommentieren. Der Arbeitsausschuss hat die Möglichkeit, die Einspruchsphase auf vier Monate zu erhöhen, wovon bei komplexen Themen auch Gebrauch gemacht wird, um der Öffentlichkeit mehr Zeit für die Kommentierung zu geben. Werden bis zum Ablauf der Einspruchsfrist keine Einsprüche eingereicht, wird der Norm-Entwurf als Norm veröffentlicht. Werden Einsprüche eingelegt, müssen diese behandelt und mit den Einsprechenden besprochen werden. Der Norm-Entwurf wird ggf. angepasst und anschließend als Norm veröffentlicht. Jeder, vor allem die Anwender der Norm, haben damit die Möglichkeit, eine Norm zu prüfen, bevor sie veröffentlicht wird.

Wie oft wird eine Norm überarbeitet und wer bestimmt den Zeitpunkt?

Eine turnusmäßige Überprüfung einer Norm findet alle 5 Jahre statt. Bei Bedarf kann eine Überprüfung vorgezogen werden. Der zuständige Arbeitsausschuss entscheidet darüber, ob die Norm zu überarbeiten ist oder für die nächsten Jahre unverändert bleibt.

Viele Menschen haben Bedenken wegen Lobbyismus. Wie lässt sich Lobbyismus in Normenausschüssen denn verhindern?

Transparenz ist hier ein wichtiges Stichwort. Es ist ganz klar, dass sich in den Arbeitsausschüssen unterschiedliche Interessen gegenüberstehen: Verbraucherschutzorganisationen vertreten die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher, Umweltverbände setzen sich für Umweltbelange ein. Der Öffentlichen Hand geht es vor allem um Sicherheit und den Schutz von Menschen. Produkthersteller und Verarbeiter bringen sich ein, damit in einer Norm etwas steht, das sie auch leisten können. Natürlich wird sich der Verbraucherschutz für möglichst hohen Schallschutz einsetzen und die Immobilienbranche für die ökonomische Umsetzbarkeit; die Verwender eines Produktes dafür, dass dieses möglichst viel kann, der Hersteller, dass ihn das nicht überfordert. Die Wissenschaft will es möglichst genau, die Praxis möglichst einfach. Es liegt in der Natur der Sache, dass die verschiedenen interessierten Kreise unterschiedliche Perspektiven in die Prozesse einbringen. Deswegen ist es auch so wichtig, dass all diejenigen, die es angeht, mit am Tisch sitzen. Und genau das ist Normung. Es geht darum, unterschiedliche Perspektiven zum Konsens zu führen – das Ringen um die beste Lösung. Die Aufgabe von DIN dabei ist, diesen Prozess zu begleiten und dafür zu sorgen, dass alle Sichtweisen eingebracht werden können.

Welche Bedeutung hat die DIN-Norm in Bezug auf internationale Regelungen?

DIN ist Mitglied bei ISO und CEN und sorgt dafür, dass deutsche Interessen in die internationale, bzw. europäische Normung eingebracht werden. Da die meisten hierzulande angewendeten Normen europäische und internationale EN- bzw. ISO-Normen sind, ungefähr
80 %, ist ein starkes Engagement für Deutschland sehr wichtig. So besteht der größte Teil der Arbeit der nationalen Arbeitsausschüsse bei DIN nicht darin, eigene nationale DIN-Normen zu erarbeiten, sondern die europäische und internationale Normung auf nationaler Ebene zu spiegeln und durch die Entsendung deutscher Expertinnen und Experten mitzugestalten. Als Beispiel für den Einfluss in der Welt über die Normung gilt wahrscheinlich der deutsche „Normungsexportschlager“ schlechthin: das A4-Format. Zunächst in Deutschland 1923 als DIN 476 eingeführt, war sie Grundlage für das heute weltweit genutzte und nach ISO 216 genormte Papierformat. Die Erarbeitung europäischer und internationaler Normen findet nicht direkt bei CEN und ISO statt, sondern bei einer der nationalen Mitgliedsorganisationen, die das Sekretariat dafür übernimmt. Jede Mitgliedsorganisation kann sich für die Übernahme von CEN- und ISO-Sekretariaten bewerben.
Die nationale Normungsorganisation, die das Sekretariat hält, organisiert die Normungsarbeit und stellt in der Regel auch den Vorsitzenden des Gremiums. DIN ist hier sehr stark engagiert. Deutschland ist eines der Länder, das die meisten ISO- und CEN-Sekretariate hält.

Welche Norm hat Ihrer Meinung nach derzeit die größte Bedeutung? Und gibt es eine von besonderem Stellenwert, an der derzeit gearbeitet wird?

Ich denke, DIE wichtigste Norm oder DEN wichtigsten Standard gibt es nicht. Übrigens auch nicht, dass es DIE unwichtigste Norm gibt, die sich sofort abschaffen ließe. Allein im Baubereich haben wir ungefähr 3.900 Normen – im Geschosswohnungsbau sind es 350 – , die für die am Bau Beteiligten ganz unterschiedlich relevant und wichtig sind. Normen und Standards regeln viele kleine Dinge, mit denen sich viele verschiedene Menschen beschäftigen.
Dafür, dass ein Haus nicht einstürzt, braucht der Statiker die Bemessungsnormen, die Bauunternehmung die Ausführungsnorm und der Baustoffhersteller die Produktnorm. Wichtig ist, dass am Ende alles zusammenpasst. Und dabei helfen Normen und Standards. Besondere Bedeutung haben für mich Normen und Standards in Bereichen, in denen wir dringend benötigte Transformationsprozesse in Gang bringen müssen.
Eines der wichtigsten Themen für die Menschheit ist sicherlich der Klimawandel. Um diese Herausforderungen zu lösen, brauchen wir neue Technologien – und Normen, um sie zu skalieren. Nur wenn Innovation in die breite Anwendung kommt, kann sie viel bewegen. Und wir müssen viel bewegen. Normung und Standardisierung helfen dabei, dass wir vom gleichen sprechen, dass wir für komplexe Sachverhalte ein gemeinsames Verständnis entwickeln. Durch sie werden abstrakte Begriffe wie Nachhaltigkeit sehr konkret und handhabbar. Beim Thema Nachhaltigkeit spielt die ISO 14000er-Normenreihe eine ganz zentrale Rolle. So ist einer der wichtigsten Beiträge der Normung im Kampf gegen den Klimawandel die Standardisierung der Ökobilanzierung, mit der sich ein Umweltfußabdruck in Zahlen ausdrücken lässt: Nur was man messen kann, kann man auch verbessern. Mit der EN 15804, der Norm für Umwelt-Produktdeklarationen für Bauprodukte, wird die Ökobilanzierung sehr konkret und sie hat damit den Weg in eine breite Anwendung gefunden – so gesehen für mich einer der wichtigsten Erfolge der Normung in diesem Bereich. Und es macht mich auch ein wenig stolz, dass die Baubranche, die allgemein als eher konservativ gilt, hier eine Vorreiterrolle eingenommen hat.

„Eines der wichtigsten Themen für die Menschheit ist sicherlich der Klimawandel. Um diese Herausforderungen zu lösen, brauchen wir neue Technologien – und Normen, um sie zu skalieren.“

Markus Brunner

Vielen Dank für das sehr interessante Gespräch, Herr Brunner!

www.din.de

Das Interview erschien zuerst in der Fachzeitschrift TI - Technische Isolierung Nr. 3.2024 bei RM Rudolf Müller Medien.